Humoreske von Heinrich v. Reuß
in: „Hagener Zeitung” Beilage Unterhaltungsblatt vom 8.9.1897
Onkel Schwabelmann war zur Taufe seines jüngsten Neffen, des kleinen Alfred, in dem frohen Familienkreise, der sich just auf dem Balkon zu einer Kaffeeschlacht niederließ, gekommen und hatte nicht nur ein Taufgeschenk in Gestalt eines silbernen mit dem unvermeidlichen Monogramm gezierten Serviettenringes und eine Düte Schokoladenplätzchen sondern auch einen großen Sack voll guter Laune mitgebracht.
Onkel Schwabelmann war einer von den originellen Charakteren, die noch aus der guten alten Zeit übrig geblieben sind und den Riesenschritt der modernen nicht mitmachen können. Er war ein sogenannter Sechsdreier-Rentier, hatte wenig Bedürfnisse und lebte mit allen Leuten in Friede und Freundschaft.
Bei der Taufgesellschaft ging es natürlich lustig zu. Die ganze Vettern-, Basen-, Tanten- und sonstige Verwandtschaft hatte sich zusammengefunden. Außer dem Kaffee gabs auch Kuchen, und das ist immerhin das Zeichen einer gewissen Feierlichkeit. Als die Kaffeeschlacht vorüber war, zog sich der weibliche Teil der Gäste mit der jungen Mutter in die inneren Wohngemächer zurück, während Onkel Schwabelmann mit dem überglücklichen Papa bei einer Cigarre auf dem Balkon blieb.
Allmählich wurde es dunkler, der Abend sank mehr und mehr hernieder. Der Vater des Täuflings war nicht sehr redselig; er dachte nämlich immerzu an seinen Jungen und dann lächelte er und ein Zug stolzen Selbstbewußtseins glitt über seine von reinstem Vaterglück verklärten Züge. Ab und zu stahl er sich einen Augenblick hinaus, wobei er sich zuerst immer bei Onkel Schwabelmann entschuldigte. Draußen ging er dann zu dem Täufling, guckte ihm ins Gesicht, nickte ein paar Mal mit großer Heftigkeit, steckte ihm schließlich den Zeigefinger unter das Kinn und sagte mit der sanftesten Modulation seines Organs: ”Kille, kille”. Dann freute er sich übers ganze Gesicht, nickte noch einmal, ging dann wieder zu Onkel Schwabelmann auf den Balkon und entschuldigte sich, daß er so lange geblieben sei, aber eine wichtige Angelegenheit ... dabei verlor er jedesmal den Faden, verschlückerte sich und fragte den Onkel, ob er noch etwas zu rauchen haben wolle.
Der Onkel aber amüsierte sich auf seine eigene Faust. Hier auf dem Balkon wars recht gemütlich; die Cigarre war leidlich, was brauchte man weiter. Dem glücklichen Vater nickte er immer sehr freundlich zu, wenn dieser verschwinden wollte oder stotternd wieder erschien. Zuletzt blieb Papa ganz weg; er hatte drin, während Mama das Abendbrot besorgte, den Jungen selbst genommen und wiegte ihn nun überhutsam zärtlich auf den Armen, während die Tanten und Basen mit Häkel- und Strickarbeiten beschäftigt waren.
Onkel Schwabelmann war nun draußen auf sich angewiesen und genoß in Ruhe den herrlichen Abend. Nichts regte sich in der Natur; die Straße schien wie ausgestorben; nur auf dem Balkon nebenan, der durch eine mit Milchglas versehene Wand von dem seinigen getrennt war, schienen Leute zu sein, denn hin und wieder flog ein abgerissenes Wort herüber. Genau konnte man nicht verfolgen, um was es sich handelte, aber es schien, als ob die beiden, die sich dort drüben unterhielten, ab und zu erregt an einander gerieten.
Nun, Onkel Schwabelmann ging dies ja eigentlich nichts an; sie mochten es unter sich ausmachen, wenn sie einen Streit hatten. Aber wenn man so allein sitzt und der Abend herniedersinkt, kriegt man allerlei dumme Gedanken und es ist und bleibr ein aufregendes Gefühl, wenn man von einem anscheinend erregten Gespräch immer nur abgerissene Worte hört.
Plötzlich horchte Onkel Schwabelmann entsetzt auf. Ganz deutlich hatte er soeben vernommen, daß die eine von den beiden männlichen Stimmen gerufen hatte:”Sie sind ein Hotelschwindler, ein professioneller Hochstapler; ich werde Sie der Polizei übergeben!” Das ging denn doch etwas über die Gemütlichkeit. Schwabelmann erwartete jeden Moment, daß es nun drüben zum Klappen kommen würde, allein der Beschuldigte schien diesen furchtbaren Vorwurf hingenommen zu haben. Ohne Zweifel hatte er ein stark belastetes Gewissen, so daß er nicht wagte, auf diese schwere Anklage etwas zu erwidern. Schwabelmann war aufmerksam geworden und lauschte mit gespanntestem Interesse. Da kam es denn deutlich zu Tage, daß es sich dort drüben um einen lange gesuchten Verbrecher handeln müsse, dem die Polizei bereits auf dem Nacken sitze. Genau konnte er hören, daß von einem Detektiv die Rede war, der den Hotelschwindler verfolge. Dann schienen die beiden drüben wieder heftiger aneinander zu geraten. Sie beschuldigten sich gegenseitig; einer nannte den anderen einen Gauner, während dieser jenen wiederum für einen Dieb erklärte.
Der Horcher an der Glaswand lauschte immer angespannter; er hatte sich, nachdem er vergeblich versucht, einen Blick dort hinüberzuwerfen, eng an die Scheidewand geschmiegt; da dieselbe aber vollkommen dicht war, so erhaschte er nur einzelne Brocken, welche ab und zu herüberflogen.
Da fiel deutlich das Wort ”Steckbrief” und nun folgte ein regelrechtes Signalement, wie es die Polizei aufzunehmen pflegt. Es wurde haarklein verlesen, worauf die Stimme drüben klar und deutlich ausrief: ”Das Signalement paßt Wort für Wort auf Sie, Sie sind der lange gesuchte Hotelschwindler, dem ich schon seit zwei Monaten auf der Spur bin; ich verhafte Sie!”
Statt einer entrüsteten Gegenerklärung, die Schwabelmann erwartet hatte, erfolgte aber ein schallendes Gelächter und fast kam es dem Onkel so vor, als hätten alle beide in dasselbe eingestimmt. Letzteres mußte indessen entschieden Täuschung sein; wahrscheinlich hatte nur der Angeschuldigte seinen Ankläger wegen seines ungerechtfertigten Verdachtes ausgelacht.
Alles, was da drüben geschah, kam Onkel Schwabelmann außerordentlich merkwürdig vor und er bemühte sich daher nach Kräften, dieser Sache auf den Grund zu spüren. Eine Zeit lang schien es dem Horcher, als hätte sich nebenan alles beruhigt; ja, er glaubte sogar hier und da ein unterorucktes Kichern zu hören. Ihm wurde immer unheimlicher zu Mute; sollte er es vielleicht gar mit ein paar Irrsinnigen zu thun haben? Die Ruhe, die jetzt scheinbar eingekehrt war, dünkte ihm noch beängstigender als die Anklagen vorhin. Nun wurde drüben getuschelt und gewispert, daß es nur so eine Art hatte. Onkel Schwabelmann schärfte sein Gehör, so weit es nur möglich war. Jetzt hatte er einige Worte vernommen, welche ihm das Blut in den Adern erstarren lietzen. Sein Gesicht wurde leichenblaß, seine Augen öffneten sich unwillkürlich starr und kalter Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Wort für Wort hörte er, wie zwei Verbrecher, nur durch eine Glaswand von ihm getrenn: einen schwarzen Plan schmiedeten und zugleich berieten, wie sie die Polizei an der Nase herumführen wollten. Es mußten das ganz hartgesottene Gauner sein, denn sie nahmen ihr Unternehmen augenscheinlich gar nicht schwer und brachen schließlich fast jubelnd in den Ruf aus: „Natürlich, so machen wirs, das wird großartig, das wird eine hübsche Scene geben, wenn der an der Nase herumgeführte Detektiv mit seinem dummen Gesicht dasteht und die zur Verhaftung gesandten Schutzleute unverrichteter Sache abziehen müssen. Hahaha!”
Jetzt hielt sich Schwabelmann nicht länger. Totenbleich stürzte er in das große Familienzimmer wo sein Erscheinen unter der frohen Gesellschaft wie eine Bombe wirkte. Sah er doch aus wie ein leibhaftiges Gespenst und das Zittern, welches sichtbar seinen Körper überlief, teilte sich unwillkürlich den Anwesenden mit. Der glückliche Papa nahm fürsorglich den Sprößling in seine Arme, als müsse er ihn vor einem drohenden Unheil bewahren und das Schnattern der Tanten und Basen verstummte so gründlich, daß man ein Taschentuch hätte fallen hören können.
Schwabelmann schnappte noch immer nach Luft und ohne die geängstigten weiter aufzuklären, stürmte er nach der Polizei, nachdem er ihnen nur zugerufen, sie möchten um ihrer Seelenseligkeit willen zu niemanden ein Sterbenswörtchen sagen und, wenn ihnen ihr Leben lieb sei, nicht auf den Balkon zu gehen. Man kann sich denken, in welchem Zustand die Taufgesellschaft zurückblieb. Kein Mensch wagtezu atmen und nicht einmal der Gedanke an Flucht kam den geängstigten Tanten. Der Vater und die Mutter weinten still um das gefährdete Leben ihres Sprößlings und ersterer machte sich für alle Fälle kampfbereit, indem er ein großes Tranchiermesser zurecht legte, so daß er es jede Sekunde zur Hand hatte.
Unterdessen war Onkel Schwabelmann völlig außer Atem auf die Polizeiwache angelangt. Der Wachtmeister, der sonst solchen Anzeigen aus dem Publikum immer etwas skeptisch gegenüberstand, wurde von dem Anblick des entsetzensbleichen Schwabelmann derartig in Schrecken gesetzt, daß er schleunigst den Säbel umschnallte, den Helm aufsetzte und zwei Schutzleute zur Assistenz beorderte. Im Ausnehmen von Verbrechernestern war er nämlich Meister. Mit diesem Gefolge Königlicher Polizei ging nun Onkel Schwabelmann der Behausung der ängstlich wartenden Täuflingsfamilie zu. Der Schreck, den sie alle erhielten, als der sonst so gutmütige und sanfte Onkel mit so furchtbarer Eskorte erschien, war kein geringer. Man beruhigte sich jedoch bald, als man hörte, daß es sich lediglich um den Schutz des eigenen Heims gegenüber zwei unwürdigen Nachbarn handelte. Der Polizeiwachtmeister war ein geborener Feldherr, er traf seine Maßnahmen mit Umsicht und Energie. Nachdem er das Terrain rekognosziert, stellte er den einen Schutzmann als Posten auf den Balkon, damit er etwaigen Ueberkletterungsgelüsten der beiden Verbrecher sofort einen wirksamen Riegel vorschieben konnte. Er selbst faßte mit dem anderen Schutzmann, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Wohnung keinen zweiten Ausgang besaß, vor der Korridorthür Posto und zwar so, daß man durch das in der Thür angebrachte Guckloch weder ihn noch seinen Begleiter sehen konnte.
Dann klingelte er kurz und kräftig. Es wurde ganz regelrecht geöffnet und zwar von einer Wirtschafterin, welche beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, als sie der beiden furchtbaren Wächter des Gesetzes ansichtig wurde. Sie wollte schreien, aber der Wachtmeister bedeutete ihr, daß sie sich mäuschenstill zu verhalten habe. Die beiden Polizeimänner schritten nun kurzer Hand durch den Salon auf die Balkonthür zu, welche weit offen stand und draußen auf dem Balkon saßen die Verbrecher, offenbar in angelegentlichem Gespräch über irgend einen Plan. Freilich, sonst sah man recht wenig verbrecherisches, so sehr auch der Herr Wachtmeister etwas zu entdecken sich bemühte.
Die beiden Verbrecher erwiesen sich nämlich als zwei sehr anständig gekleidete Herren, welche mit einer Cigarre beim Bier saßen und eine Menge Papier und verschiedene Bücher vor sich hatten; jeder von ihnen war bewaffnet mit einer Feder, die offenbar aus dem in der Mitte des Tisches stehenden Tintenfaß gespeist wurde. Der Polizeigewaltige verlor immer mehr von seiner fabelhaften Sicherheit, denn er mochte sich wohl schon durch den Anblick überzeugt haben, daß es sich hier nicht um staatsgefährliche Verbrecher handle. Gleichwohl erforderte sein Eindringen in die Wohnung gewissermaßen eine Erklärung, und irgendwie mußte er doch die Lösung des Rätsels herbeiführen. Er wandte sich daher an die beiden erstaunt aufsehenden Herren und sagte:
”Entschuldigen Sie, wenn wir stören; allein es wurde unserem Revier eine Anzeige gemacht, daß hier ein Verbrechen geplant werde, welches auf diesem Balkon mit allen seinen Einzelheiten besprochen worden sei, bei welchem sogar darauf Bedacht genommen wurde, wie der Streich der Polizei zu verheimlichen und diese selbst an der Nase herumzuführen sei. Sie sehen, daß die Polizei schon vorher zur Stelle ist, ehe das geplante Verbrechen zur Ausführung gelangen kann.”
Die beiden Herren, welche sich sogleich erhoben hatten, brachen jetzt in ein schallendes Gelächter aus, und zwar mußte die Veranlassung, welche sie dazu hatten, eine außerordentlich triftige sein, denn sie wanden sich förmlich in konvulsivischen Zuckungen; einer von ihnen schlug sich fortwährend auf die Oberlende und schrie, sobald er Luft genug dazu bekam, fortwährend: „Das ist ja gottvoll! Das ist ja großartig!” Dann drohte ihn aber bald wieder ein neuer Lachanfall zu ersticken.
Da die beiden so schnell nicht aufhörten, wurde der Wachtmeister sehr ungemütlich und verbat sich allen Ernstes dieses Lachen, welches er, wenn es fortgesetzt würde, als Beamtenbeleidigung auffassen und dann entsprechend dagegen einschreiten müsse. Die beiden Herren aber lachten nur um so unbändiger und riefen: „Nein, das ist aber wirklich ausgezeichnet, die Sache ist vorzüglich!” Dann schienen sie beide denselben Gedanken zu bekommen, denn plötzlich sahen sie sich mit blitzenden Augen an, zeigten mit den Fingern auf einander und sagten:„Du, das ist übrigens eine famose Idee für unser Stück; das giebt ja ein paar brillante Scenen.”
Die beiden Verbreiher waren nämlich nichts anderes, als zwei harmlose Schriftsteller, welche gemeinschaftlich an einer neuen Posse dichteten und in ihrem Eifer, ihre Ideen zu entwickeln, manchmol ein wenig laut geworden waren. Dies sagten sie, nachdem sie sich ein wenig erholt hatten, dem Wachtmeister, der angesichts dieser komischen Situation nicht so recht wußte, was er für ein Gesicht dazu machen sollte. Er war fast geneigt, die ganze Geschichte für eine faule Ausrede zu halten, aber die beiden Litteraten zeigten ihren Possenentwurf, der den ganzen schweren Plan, der von ihnen ausgebrütet war, enthielt.
Mit sauersüßer Miene zog der Wachtmeister in Begleitung des mitgebrachten Schutzmannes ab; den andern holte man vom Balkon und teilte bei dieser Gelegenheit der Familie in ziemlich deutlichem Tone mit, um was es sich eigentlich handele.
Herr Schwabelmann aber, der es so gut gemeint hatte, erhielt einen schlechten Lohn. Nach vierzehn Tagen bekam er nämlich ein Strafmandat in Höhe von zehn Mark wegen fahrlässiger Alarmierung der Polizei.
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